Politik

Digitale Demokratie im Aufbruch

“Anticrisis Girl“ is watching you


"The Day We Fight Back" banner (Quelle: CC BY 4.0, Perkins, thedaywefightback.org)
Connected World
(Quelle: Creative Commons, Junior Melo)
GDN - Informationsfreiheit contra Zensur. Westliche Staaten haben Assange und Snowden im Visier, doch die globale Demokratie ist im Aufbruch. Was sie braucht, ist die Courage Einzelner und öffentliche Rückendeckung. Die Leaking-Kultur hat Machtpotential.
Kaum flachte die Debatte darüber, ob US-Spionageenthüller Edward Snowden Held oder Verräter sei, ab, spricht doch die von der Journalistenorganisation Reporter ohne Grenzen (ROG) veröffentlichte Rangliste zur Pressefreiheit 2014 eine eindeutige Sprache. Das Ranking alarmiert die digitale Öffentlichkeit. Die globale Öffentlichkeit, die online kommuniziert, bloggt, protestiert, ihre Daten im Internet preisgibt und am Ende durch Geheimdienste überwacht wird, sieht sich bedroht - ihre Persönlichkeitsrechte stehen auf dem Spiel.
Fakten demonstrieren, wie es um das weltweite Menschenrecht der Informationsfreiheit steht. Während im für Journalisten derzeit tödlichsten Bürgerkriegsland Syrien für 2013 mindestens zehn getötete Journalisten und 35 Bürgerjournalisten registriert wurden, scheint der nicht weniger gefährliche Krieg westlicher Demokratien unsichtbar. Ganze dreizehn Ränge fielen die USA (46, -13) im Ranking. Die rote Karte kassierte auch Großbritannien (33, -3). Die Menschenrechtsorganisation verurteilt das Vorgehen gegen die Redaktion des Guardian, das ein alarmierendes Signal für die Pressefreiheit bedeutet. Der britische Guardian wurde zur Zerstörung von Redaktionsinterna zum Geheimdienst GCHQ gezwungen.
Selbst Staaten wie die USA und Großbritannien rückten investigative Journalisten und ihre Hinweisgeber mittlerweile in die Nähe des Terrorismus, entrüstete sich ROG-Vorstandssprecher Michael Rediske. Mit der starken Herabstufung antwortet die Organisation auf die Whistleblower-Verfolgung. Eine gnadenlose Hetzjagd erdulden diese für den investigativen Journalismus so relevanten Informanten, da sie demokratische Verfehlungen an die Öffentlichkeit liefern. Im Grunde ist dies der Job des investigativen Journalismus, Missstände anzuprangern. Die potentielle totale Überwachung ist so ein Fall.
Das Tauziehen um die rechtlich ungeschützten Whistleblower geht derzeit weiter. Ob US-Spionageenthüller Snowden, oder WikiLeaks-Pionier Julian Assange - Whistleblowing ist längst zur Staatenaffäre geworden. Snowden befindet sich im politischen Asyl in Russland, und Assange sitzt bereits seit Juni 2012 in der ecuadorianischen Botschaft in London fest. Ihnen droht das Schicksal Chelsea Mannings.
Der ehemalige US-Soldat, vormals Bradeley Manning, verbüßt eine 35-jährige Haftstrafe, da er Beweise über Kriegsverbrechen der US-Army im Irak an WikiLeaks weiterleitete. Der unfaire Prozess demonstriert, wie außergewöhnlich hart die USA mit Geheimnisverrätern verfährt. Im Fall Snowden bekannte sich Obama eindeutig, er glaube nicht, dass Snowden ein Patriot sei. Ad absurdum geführt wird die eigentliche Intention Snowdens, eine Debatte über illegale Geheimdienst-Methoden in Gang zu setzen.
Snowden zwischen den Fronten
Gegenstand der zugespitzten NSA-Affäre ist die in Snowden personifizierte Informationsfreiheit. Der “Agent“ zwischen den Fronten wird zum Eigentor westlicher Demokratien. Gerade erst kapitulierte die EU vor dem Druck der USA und verwehrte ihm das Recht auf Asyl und somit den Schutz vor Verfolgung und Auslieferung. Paradox ist es, dass ausgerechnet Moskau dem Whistleblower Asyl gewährt. Schließlich sonnte sich Putin als moderner Spiele-Sponsor Olympias im internationalen Licht, während Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung stehen. Ganze Ortschaften wurden im Austragungsort umgesiedelt, Menschen nicht entschädigt, Arbeitsimmigranten nicht bezahlt, im Nordkaukasus Journalistenmorde nicht aufgeklärt.
National Security Agency (NSA)
Quelle: public domain, wikimedia commons
Russland reiht sich zudem in die Staatenliste der Internetzensur ein. Wer die Wahrheit ausspricht, muss mit strafrechtlicher Verfolgung rechnen. Kaum etwas anderes droht dem NSA-Enthüller in den USA. Doch Obama stößt bei Putin weiter auf taube Ohren, keine Auslieferung Snowdens an die USA. Der russische Staatschef macht auf barmherzigen Asylgewährer, legt sich an mit seinem beleidigten US-Nebenbuhler. Snowden und damit die Informationsfreiheit wird zum Spielball der Machtpolitik degradiert.
Vom Gewissen im “global village“
Doch es gibt sie, die Whistleblower, die sich dem enormem Risiko aussetzen. Der Preis ihrer Aufklärungsarbeit ist hoch - Morddrohungen erhalten sowohl Assange als auch Snowden. Ohne die NSA-Affäre wäre die mediale Debatte nicht losgeschlagen worden, die EU nicht alarmiert, und der NSA drohten keine Reformen. Die Welt ahnte nichts von Wirtschaftsspionage und davon, dass ihre Daten systematisch archiviert werden. Komplexe Überwachungsprogramme wie PRISM, Tempora und XKeyscore wären nie gekannte Fremdwörter.
Für Snowden war im US-Fehlverhalten massiver Spähprogramme “eine rote Linie überschritten“, er folgte seinem Gewissen. “Ich glaube, dass es Fälle gibt, in denen das, was gesetzlich erlaubt ist, nicht unbedingt auch richtig ist. Es gibt genug Beispiele in der Geschichte in Amerika und in Deutschland, in denen die Regierung des Landes im Rahmen des Gesetzes handelte und trotzdem Unrecht tat.“, sagte er im ARD-Interview.
Eine neue Kultur ist dabei, sich zu etablieren, in der das Gewissen aufsteht und die relevante Information nach außen dringt. In sozialen Netzwerken stellt sich die Gesellschaft der neuen Verantwortung, nimmt Anteil am weltweiten Eingriff in Bürgerrechte, setzt Tweets ab, mobilisiert Protestbewegungen. Nicht erst Snowden demonstriert, die Zivilbevölkerung lebt in einer digitalen Demokratie, ist zum globalen Dorf zusammen gewachsen. Die durch die Whistleblower angeschlagene Debatte setzt die internationale Politik auf den Prüfstand.
Die digitale Gesellschaft war live dabei, als WikiLeaks sie mit dem Video “Collateral Murder“ konfrontierte, in dem US-Soldaten die tödlichen Schüsse aus einem Kampfhubschrauber in Bagdad auf irakische Zivilisten und Reuters-Journalisten abgaben. Der kanadische Medientheoretiker Marshall McLuhan prophezeite die Situation bereits in den 1960er Jahren. Das globale Dorf sei eine Welt, in der nicht unbedingt Harmonie herrsche. Man habe es auf extreme Art mit den Angelegenheiten aller anderen Menschen zu tun, sei ständig am Leben aller Anderen beteiligt. Dies bedeute nicht notwendigerweise Harmonie, Frieden und Ruhe, so McLuhan. Protestbewegungen, wie die aktuelle Revolution in der Ukraine, werden ungeschönt im Netz verfolgt.
Live begleitet die Welt auf Twitter das kämpfende Volk und versammelte sich auf den brennenden Maidan-Barrikaden. Die neue Kultur des kritischen Beobachtens kann sich dem kaum entziehen. Die Macht der Regierungen ist nicht mehr unbegrenzt, denn Internetkommunikation ist die Macht der Unterdrückten. Bei Kritikern, die im Fall Snowden “Verräter“ rufen, ist diese Botschaft nicht angekommen. Bei anderen hingegen schon. Beispiele für das wachsende Bewusstsein der digital emanzipierten Zivilgesellschaft und die weltweite Solidarität gibt es viele. So protestierten im Februar Datenschutzorganisationen und Unternehmen unter dem Slogan “The Day We Fight Back“ gegen die massiven Überwachungsmethoden.
Der Aktionstag “Safer Internet Day“ will sich für mehr IT-Sicherheit stark machen, und “The Intercept“, u. a. lanciert durch den Journalisten Glenn Greenwald, konzentriert sich auf die Snowden-Enthüllungen. Jüngst gab Intercept bekannt, dass Besucher der WikiLeaks-Website durch GCHQ und NSA überwacht wurden. Dabei bediente sich GCHQ eines allgemein zugänglichen Webtracking-Tools, das den internen Codenamen “Anticrisis Girl“ trug. Als legitime Überwachungsziele eingestuft wurden auch die Filesharing-Webseite “The Pirate Bay“ sowie “Anonymous“. Aktuellen Enthüllungen von Intercept zufolge, greift GCHQ zu sozialpsychologischen Methoden, um unliebsame Personen oder Institutionen mittels manipulativer Netzkommunikation zu diskreditieren. Intelligente Verbrechensbekämpfung oder gefährliches Cybermobbing an Unschuldigen?
The Intercept: Neue GCHQ-Enthüllung
Quelle: screenshot (https://firstlook.org/theintercept/)
Zum Kampf für die Informationsfreiheit ermutigt auch die durch ROG gestartete Anti-Zensur-Plattform “WeFightCensorship.org (WeFC)“. Hier finden zensierte Inhalte Weltöffentlichkeit. So z.B. die zensierten China Leaks, die korrupte Machenschaften aufdeckten. Demonstrativ spiegeln die Blogosphäre und internationale Medien die Leaks ins Cyberspace. WeFC ist auch Ratgebertool, wenn es um Datenschutz und E-Mail-Verschlüsselung geht. Transparenz der Mächtigen ja, aber nicht auf Kosten der Bürgerrechte, lautet die Botschaft. Das fordert auch Julian Assange. Mit der Leaking-Kultur hat sich eine neue Gegenmacht formiert. Generalüberwachung, staatliche Drohnenmorde und systematische Folter - die Welt macht ihr Recht auf Information geltend. Darauf müssen sich repressive Staaten einstellen. Ohne die Courage Einzelner schliefen wir noch den Dornröschenschlaf und träumten von Demokratie. Die Welt ist mitten drin im Leaking-Century.

weitere Informationen: https://firstlook.org/theintercept/

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